Rechtsgrundlagen des Reemtsma-Direktanspruchs
Die Umsatzsteuer ist als Verbrauchsteuer konzipiert und soll Unternehmen, die als Unternehmer im Sinne des Umsatzsteuergesetzes tätig sind, nicht endgültig belasten. Daher besteht der Grundsatz der Steuerneutralität: Jeder Unternehmer muss die Möglichkeit haben, die in Rechnung gestellte Umsatzsteuer als Vorsteuer abzuziehen, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. In der Praxis jedoch entstehen immer wieder Fälle, in denen eine Unternehmenstransaktion zu Unrecht mit Umsatzsteuer belastet wurde, etwa weil der Leistungsort fehlerhaft bestimmt wurde oder eine steuerfreie Leistung zu Unrecht als steuerpflichtig behandelt wurde. Wird diese Umsatzsteuer vom leistenden Unternehmer an das Finanzamt abgeführt, obwohl sie materiellrechtlich nicht geschuldet war, stellt sich die Frage, wie der Leistungsempfänger seine zu viel gezahlte Umsatzsteuer zurückerhält – insbesondere dann, wenn der Leistende insolvent ist.
Genau hier greift der sogenannte Reemtsma-Direktanspruch, benannt nach der Rechtssache Reemtsma Cigarettenfabriken (Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 15. März 2007, C‑35/05). Der Europäische Gerichtshof hatte entschieden, dass es grundsätzlich Aufgabe des Leistenden sei, zu Unrecht gezahlte Umsatzsteuer vom Finanzamt zurückzufordern und sie an den Leistungsempfänger weiterzuleiten. Wenn diese zivilrechtliche Rückabwicklung jedoch faktisch unmöglich oder übermäßig erschwert ist – etwa wegen Zahlungsunfähigkeit des Leistenden – müssen die Mitgliedstaaten ein direktes Erstattungsrecht gegenüber der Finanzverwaltung vorsehen, um die unionsrechtlich garantierte Steuerneutralität sicherzustellen.
Anwendung des Direktanspruchs in der deutschen Rechtspraxis
Der Bundesfinanzhof hat diese europarechtlichen Leitlinien in mehreren Entscheidungen aufgegriffen, zuletzt etwa im Urteil vom 30. Juni 2015 (Az. VII R 30/14). Danach besteht kein unmittelbarer Rückforderungsanspruch des Leistungsempfängers nach § 37 Absatz 2 Abgabenordnung, da dieser Vorschrift nur denjenigen betrifft, der selbst an die Finanzverwaltung geleistet hat. Der Reemtsma-Fall greift hingegen auf die billigkeitrechtlichen Vorschriften in § 163 und § 227 Abgabenordnung zurück. Das Finanzamt hat in Fällen unbilliger Härten die Möglichkeit, Steuerfestsetzungen zu ändern oder Ansprüche zu stunden beziehungsweise zu erlassen. Unbillige Härten liegen etwa dann vor, wenn der Leistungsempfänger unverschuldet in eine Situation gerät, in der er wirtschaftlich die Umsatzsteuer trägt, ohne dazu verpflichtet zu sein, und gleichzeitig kein effektives Rechtsmittel besteht, um den überzahlten Betrag einzufordern.
Das Finanzgericht Baden-Württemberg hat in seiner Entscheidung vom 06. Dezember 2023 (Az. 14 K 1423/21) diese Sichtweise ausdrücklich bestätigt. Der Fall betraf eine Schweizer Aktiengesellschaft, die in Deutschland umsatzsteuerlich registriert war und für erhaltene Werbe- und Vermittlungsleistungen deutsche Umsatzsteuer im Gutschriftverfahren abführte. Erst nachträglich stellte sich heraus, dass der Leistungsort in der Schweiz lag und damit keine deutsche Umsatzsteuer geschuldet war. Da der deutsche Vertragspartner insolvent geworden war, stellte sich die Frage, ob die Klägerin ihre Zahlungen über das Insolvenzverfahren zurückfordern musste oder einen unmittelbaren Anspruch gegen die Finanzverwaltung hatte. Das Gericht entschied, dass ein solcher Direktanspruch besteht, weil anderenfalls die unionsrechtlich garantierte Neutralität der Umsatzsteuer verletzt würde.
Praktische Bedeutung für Unternehmen und Berater
Das Urteil unterstreicht die praktische Relevanz des Reemtsma-Direktanspruchs für Unternehmen jeder Größe. Kleine und mittlere Betriebe, insbesondere im Dienstleistungssektor und im grenzüberschreitenden Handel, sehen sich regelmäßig mit komplexen umsatzsteuerlichen Fragen konfrontiert. Kommt es zur Insolvenz eines Vertragspartners, ist der Rückforderungsweg über die Insolvenztabelle oft langwierig und wirtschaftlich wenig erfolgversprechend. Das Finanzgericht Baden-Württemberg stellte klar, dass Unternehmen in solchen Konstellationen nicht verpflichtet sind, ihren Rückforderungsanspruch erst im Insolvenzverfahren geltend zu machen und jahrelang auf eine möglicherweise nur anteilige Rückzahlung zu warten. Stattdessen kann der zu Unrecht gezahlte Betrag unmittelbar gegenüber dem Finanzamt im Billigkeitswege beansprucht werden. Damit wird Liquidität frühzeitig gesichert und der unternehmerische Handlungsspielraum verbessert.
Diese Rechtsprechung ist insbesondere für Onlinehändler und Dienstleister von Bedeutung, die häufig international agieren und Zahlungen im innergemeinschaftlichen Zusammenhang leisten. Sie sollten ihre Umsatzsteuerverfahren dahingehend überprüfen, ob es in der Vergangenheit zu Fehlbeurteilungen des Leistungsorts oder der Steuerpflicht gekommen ist. Auch wenn ein solcher Vorgang bereits mehrere Jahre zurückliegt, kann eine Korrektur im Rahmen der Billigkeitsvorschriften in Betracht kommen, sofern der Anspruch noch nicht verjährt ist. Für Steuerberater und Finanzabteilungen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, Rechnungsprozesse präventiv zu prüfen und bei grenzüberschreitenden Transaktionen klare vertragliche Regelungen zur Steuerpflicht aufzunehmen. Das mindert das Risiko doppelter Belastungen und komplexer Erstattungsverfahren.
Fazit und Handlungsempfehlung
Der Reemtsma-Direktanspruch stellt einen essenziellen Pfeiler der Umsatzsteuerneutralität dar. Er sichert den Unternehmern das Recht, zu Unrecht entrichtete Steuerbeträge vom Finanzamt erstattet zu bekommen, wenn der Leistungserbringer – etwa wegen Insolvenz – dazu nicht mehr in der Lage ist. Die Entscheidung des Finanzgerichts Baden-Württemberg verleiht dieser Rechtsposition neue Klarheit und betont, dass steuerliche Gerechtigkeit nicht durch langwierige Insolvenzverfahren ausgehöhlt werden darf. Unternehmen sollten daher bei insolventen Lieferanten oder Dienstleistern prüfen, ob ein Antrag auf Vorsteuererstattung im Billigkeitswege angezeigt ist. Eine enge Abstimmung zwischen Steuerberatung, Finanzabteilung und ggf. Insolvenzverwaltung ist dabei unerlässlich, um den Anspruch prozessual richtig durchzusetzen und eine doppelte Auszahlung durch die Finanzverwaltung zu vermeiden.
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