Umsatzsteuer und Unternehmernachweis im EU-Warenverkehr
Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluss vom 15. September 2025 (V B 25/25) eine wesentliche Weichenstellung für die Praxis im Bereich der innergemeinschaftlichen Lieferungen vorgenommen. Der Kern der Entscheidung betrifft die Bedeutung der Verwendung einer gültigen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer eines Abnehmers aus einem anderen Mitgliedstaat sowie die Relevanz der sogenannten Bestätigungsanfrage gemäß § 6a Absatz 1 Nummer 4 und Absatz 4 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes. Damit greift der Bundesfinanzhof eine Frage auf, die für kleine und mittelständische Unternehmen, Onlinehändler, Pflegeeinrichtungen und auch Industrie- und Handelsbetriebe gleichermaßen von erheblicher Bedeutung ist. In der Praxis war bislang umstritten, ob die bloße Verwendung einer gültigen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Abnehmers ausreicht, um eine Lieferung als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung einzuordnen, oder ob zusätzlich eine positive Bestätigung durch das Bundeszentralamt für Steuern erforderlich ist.
Das Gericht hat die Revision ausdrücklich zur Klärung dieser Frage zugelassen und betont damit die übergreifende Relevanz für den Binnenmarkt. Denn die Anforderungen an den Unternehmernachweis sind ein zentrales Kriterium für die Umsatzsteuerbefreiung im grenzüberschreitenden Warenverkehr innerhalb der Europäischen Union. Gerade Kleinunternehmen und Onlinehändler stehen vor der Herausforderung, regelmäßig Lieferungen an Abnehmer in anderen Mitgliedstaaten auszuführen und dabei die Nachweispflichten ordnungsgemäß zu erfüllen. Auch für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, die gelegentlich medizinische Geräte oder Verbrauchsmaterialien innerhalb Europas beziehen oder veräußern, ist die korrekte Anwendung dieser Regelungen bedeutsam, um unnötige steuerliche Risiken zu vermeiden.
Rechtliche Bewertung und steuerliche Einordnung
Die aktuell zugelassene Revision zielt auf die Klärung einer Kernfrage des Umsatzsteuerrechts: Welche Bedeutung kommt der Verwendung einer ausländischen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer tatsächlich zu, wenn der Unternehmer die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen in Anspruch nehmen will? Nach § 6a Absatz 1 Nummer 4 Umsatzsteuergesetz ist Voraussetzung einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung, dass der Abnehmer gegenüber dem liefernden Unternehmer eine ihm von einem anderen Mitgliedstaat erteilte gültige Umsatzsteuer-Identifikationsnummer verwendet. Zudem verpflichtet § 6a Absatz 4 Satz 1 Umsatzsteuergesetz den Unternehmer, diese Nummer zu überprüfen und gegebenenfalls eine Bestätigungsanfrage beim Bundeszentralamt für Steuern vorzunehmen, um die Gültigkeit der Angaben zu belegen.
In der Praxis erfolgt diese Überprüfung über das sogenannte MIAS-System (Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem), das eine elektronische Bestätigung der Gültigkeit einer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer ermöglicht. Der Bundesfinanzhof deutet mit seiner Zulassung der Revision an, dass die bisherige Verwaltungspraxis einer kritischen Überprüfung bedarf. Denn bislang wurde vielfach argumentiert, allein die Angabe einer gültigen ausländischen Identifikationsnummer genüge, um den Beleg- und Vertrauensschutz herzustellen. Andere Stimmen fordern dagegen, dass die Unternehmerin oder der Unternehmer aktiv die Gültigkeit über eine qualifizierte Bestätigungsanfrage nachweisen müsse, um mögliche Steuerbefreiungen rechtssicher zu gewährleisten.
Diese juristische Fragestellung geht über rein technische Nachweiskriterien hinaus. Sie betrifft die Kernstruktur des europäischen Mehrwertsteuersystems: die Abgrenzung zwischen steuerbefreiender Lieferung und steuerpflichtigem Umsatz. Der Bundesfinanzhof könnte mit seiner Entscheidung eine neue Linie für den Nachweis der innergemeinschaftlichen Lieferbedingungen begründen, insbesondere wenn er klarstellt, inwieweit die objektive Gültigkeit einer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer Vorrang vor formalen Nachweismisslichkeiten hat. Damit wird zugleich auch die Frage der Beweislast neu justiert – ein Thema, das besonders für kleinere Unternehmen mit begrenzten administrativen Ressourcen von erheblicher Relevanz ist.
- Ein erster zentraler Aspekt ist die Abgrenzung zwischen materiellen und formellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung. Das Gericht dürfte festlegen, ob die Verwendung einer gültigen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer ein materielles Tatbestandsmerkmal oder ein bloßer Formalnachweis ist.
- Ein zweiter Punkt betrifft die Sorgfaltspflichten der Unternehmen. Es könnte klargestellt werden, wie intensiv Unternehmerinnen und Unternehmer die Richtigkeit ausländischer Identifikationsnummern zu prüfen haben.
- Schließlich steht die Frage im Raum, ob eine unterlassene Bestätigungsanfrage zwingend zur Versagung der Steuerbefreiung führt oder ob nachträgliche Nachweise genügen können.
Relevanz für kleine Unternehmen, Onlinehandel und Pflegeeinrichtungen
Für kleine und mittelständische Unternehmen kommt der Entscheidung besondere praktische Tragweite zu. Viele Betriebe wickeln regelmäßig Lieferungen an Abnehmer in EU-Mitgliedstaaten ab, ohne die Detailanforderungen aus § 6a Absatz 4 Umsatzsteuergesetz stets im Blick zu haben. Unterbleibt die Bestätigungsanfrage, droht die Versagung der Steuerbefreiung, was den Umsatz nachträglich steuerpflichtig machen kann. Gerade Onlinehändler, die stark automatisierte Verkaufsprozesse nutzen, müssen künftig prüfen, ob ihre ERP- oder Shop-Systeme eine automatisierte Abfrage und Dokumentation der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer implementiert haben. Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, die medizinische Produkte oder Geräte über Landesgrenzen hinweg beziehen, sehen sich mit vergleichbaren Anforderungen konfrontiert; auch hier kann eine fehlerhafte Handhabung zu kostspieligen Nachzahlungen führen.
Die Entscheidung verdeutlicht zugleich, dass Digitalisierung und Compliance nicht mehr voneinander zu trennen sind. Unternehmen, die ihre buchhalterischen und steuerlichen Prozesse digital abbilden, können die korrekte Prüfung von Umsatzsteuer-Identifikationsnummern effizient integrieren. Das gilt insbesondere für kleine Unternehmen, die Ressourcen schonen und trotzdem alle gesetzlichen Pflichten erfüllen müssen. Der Grundsatz der Nachweisvorsorge – also der dokumentierten und überprüfbaren Einhaltung aller Umsatzsteuervoraussetzungen – wird in Zukunft stärker in den Fokus der Betriebsprüfungen rücken.
Für Finanzinstitutionen und Steuerberatende bedeutet diese Entwicklung, dass sie ihre Mandanten proaktiv auf die neuen Anforderungen hinweisen sollten. Digitale Schnittstellen, die den Abruf von Bestätigungsanfragen automatisieren und Belegnachweise revisionssicher abspeichern, könnten künftig zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor werden. Die laufende Entscheidung des Bundesfinanzhofs bietet den Rahmen, Prozesse neu zu gestalten und steuerliche Risiken präventiv zu vermeiden.
Ausblick und Handlungsempfehlung für die Praxis
Die Zulassung der Revision zeigt deutlich, dass der Bundesfinanzhof eine Grundsatzentscheidung anstrebt, die über den Einzelfall hinausweist. Sie wird Klarheit darüber schaffen, wie Unternehmerinnen und Unternehmer künftig den Beleg ihrer innergemeinschaftlichen Lieferungen führen sollten. Unternehmen aller Branchen – ob Einzelhandel, Pflegewirtschaft oder Onlinevertrieb – sollten ihre Abläufe und die Dokumentation ihrer Umsatzsteuer-Identifikationsprüfungen kritisch überprüfen. Von besonderem Interesse wird sein, ob der Bundesfinanzhof künftig eine klare Grenze zwischen materieller und formeller Nachweispflicht zieht und damit den Rechtsschutz kleiner Unternehmen stärkt.
Unsere Kanzlei begleitet kleine und mittelständische Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer Buchhaltungs- und Steuerprozesse. Durch gezielte Prozessoptimierung in der Finanzadministration erreichen unsere Mandanten deutliche Effizienzsteigerungen und Kosteneinsparungen – ein entscheidender Vorteil in einem zunehmend komplexen steuerlichen Umfeld.
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