Neue Maßstäbe zur Kenntnis der Finanzbehörde bei Steuerhinterziehung durch Unterlassen
Mit seiner Entscheidung vom 14. Mai 2025 (Az. VI R 14/22) hat der Bundesfinanzhof die entscheidende Frage präzisiert, wann die Finanzbehörde Kenntnis von steuerlich erheblichen Tatsachen im Sinne des § 370 Absatz 1 Nummer 2 der Abgabenordnung hat. Damit verleiht das Gericht einem bislang umstrittenen Aspekt der Steuerhinterziehung durch Unterlassen eine neue, praxisnahe Kontur. Dies betrifft nicht nur klassische Steuerfälle natürlicher Personen, sondern auch kleine Unternehmen, mittelständische Betriebe, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser sowie Onlinehändler, die im Rahmen ihrer steuerlichen Pflichten zunehmend mit digitalisierten Prozessen in Kontakt kommen. Das Urteil verdeutlicht, dass die bloße elektronische Verfügbarkeit von Daten bei der Finanzverwaltung nicht automatisch als Kenntnis im strafrechtlichen Sinn gilt, was besonders für Unternehmen, die viele Datensätze übermitteln, von erheblicher Bedeutung ist.
Im zugrunde liegenden Fall reichten zusammenveranlagte Eheleute über mehrere Jahre hinweg keine Einkommensteuererklärungen ein, obwohl sich ihre steuerliche Situation durch verschiedene Einkünfte geändert hatte. Die Arbeitgeber hatten die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen korrekt übermittelt, doch diese fanden keinen automatischen Eingang in die elektronische Akte. Das Finanzamt reagierte erst Jahre später, nachdem ein automatischer Datenabgleich auffällige Abweichungen offenbarte. Kern des Verfahrens war damit die Frage, ob die Finanzbehörde aufgrund der abrufbaren Daten bereits über genügende Kenntnis verfügte, um eine Steuerverkürzung durch Unterlassen auszuschließen.
Rechtliche Einordnung und dogmatische Konsequenzen des BFH
Der Bundesfinanzhof stellte klar, dass die Festsetzungsverjährung nach § 169 Absatz 2 Satz 2 Abgabenordnung nur dann auf zehn Jahre verlängert wird, wenn eine vollendete Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung im Sinne der §§ 370 beziehungsweise 378 Abgabenordnung vorliegt. Maßgeblich ist, ob der zuständige Bearbeiter der Finanzbehörde von den steuerlich relevanten Tatsachen im entscheidenden Zeitpunkt tatsächlich Kenntnis hatte. Der BFH betonte, dass diese Kenntnis allein auf die Personen beschränkt ist, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisatorisch mit der Bearbeitung des Steuerfalls betraut waren. Eine abstrakte Verfügbarkeit elektronischer Daten ohne deren tatsächliche Überführung in die elektronische Akte reiche hierfür nicht aus.
Diese Präzisierung entfaltet weitreichende Wirkung auf die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Steuerhinterziehung durch Unterlassen. Die Entscheidung stärkt die Systematik des Besteuerungsverfahrens, in der die Sachbearbeiterfunktion und der organisatorische Zugriff auf Daten maßgeblich bleiben. Sie betont zugleich das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot aus Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes, wonach eine Bestrafung nur auf Basis klar bestimmter gesetzlicher Tatbestände erfolgen darf. Damit grenzt der BFH die Zurechnung elektronisch gespeicherter, aber nicht in die Akte integrierter Informationen bewusst ein.
- Erstens konkretisiert der BFH, dass Daten, die lediglich technisch einem Steuerfall zugeordnet, aber nicht in den operativen Bearbeitungsbereich überführt sind, keine Kenntnis begründen.
- Zweitens folgt daraus, dass die bloße Speicherung etwa elektronischer Lohnsteuerbescheinigungen bei der Finanzverwaltung keine Anrechnung auf die Wahrnehmungspflicht des Steuerpflichtigen zulässt.
- Drittens verdeutlicht das Urteil, dass die Pflicht zur Abgabe der Erklärung nach § 149 Absatz 1 Abgabenordnung weiterhin eigenständig bleibt und nicht durch die Digitalisierung der Behördenprozesse obsolet wird.
Die juristische Tragweite ist beträchtlich: Steuerpflichtige, die auf die vermeintliche allumfassende Kenntnis der Finanzbehörde durch elektronische Datenübermittlung vertrauten, können sich künftig nicht mehr auf diese „faktische Kenntnis“ berufen. Ebenso zwingt das Urteil die Finanzbehörden, den digitalen Datenfluss mit Blick auf die organisatorische Einbindung in die Aktenführung zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen.
Relevanz und Folgen für kleine und mittlere Unternehmen
Für kleine Unternehmen, Mittelständler sowie spezialisierte Betriebe etwa im Gesundheits- oder Sozialwesen ist das Urteil von unmittelbarem Praxisinteresse. In diesen Unternehmensformen werden häufig vielfältige steuerlich relevante Daten digital an die Finanzverwaltung übermittelt, sei es über die Lohnabrechnung, Voranmeldungen oder Meldesysteme zur Umsatzsteuer. Das Urteil unterstreicht, dass eine solche Übermittlung die Pflicht zur aktiven Erklärung nicht ersetzt. Gerade Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen, die viele Angestellte beschäftigen und sich auf elektronische Meldeverfahren verlassen, müssen sicherstellen, dass alle steuerlichen Erklärungspflichten vollständig und fristgerecht erfüllt werden. Andernfalls besteht die Gefahr einer Steuerverkürzung durch Unterlassen, deren strafrechtliche oder zumindest bußgeldrechtliche Konsequenzen erheblich sein können.
Auch Onlinehändler, die ihre Buchhaltungsdaten automatisiert erfassen und über Softwarelösungen wie Kassensysteme oder ERP-Anbindungen weiterleiten, profitieren von einer klaren Rechtslage, wenn sie die Kontrolle über die tatsächliche Steuererklärung behalten. Der BFH stärkt hier das Prinzip der Eigenverantwortung. Die Entscheidung verdeutlicht zudem, dass interne Prozesse des Datenmanagements und der Steuerdeklaration neu bewertet werden müssen. Unternehmen sollten prüfen, ob ihre Buchhaltungssysteme nicht nur Daten korrekt erzeugen, sondern auch sicherstellen, dass die daraus entstehenden Steuererklärungspflichten rechtzeitig erkannt und erfüllt werden. Rechnungswesen, Steuerberatung und Controlling müssen enger verzahnt sein, um Risiken zu vermeiden. Besonders für Betriebe mit digitaler Buchführung ist die Sicherstellung der formalen Abgabepflichten unverzichtbar, da eine rein elektronische Datenübermittlung keine konkludente Erklärung im Sinne der Abgabenordnung begründet.
Für Steuerberatende ergibt sich eine neue Beratungsaufgabe: Mandanten sollten darauf hingewiesen werden, dass elektronische Schnittstellen zur Finanzverwaltung nicht notwendigerweise eine Kenntnis der Behörde im steuerrechtlichen Sinn auslösen. Die Pflicht zur vollständigen Deklaration bleibt – auch im Zeitalter digitaler Steuerakte – eine höchstpersönliche und aktive Mitwirkungspflicht.
Fazit: Eigenverantwortung bleibt trotz Digitalisierung unentbehrlich
Das Urteil des Bundesfinanzhofs führt zu einer klaren Abgrenzung zwischen technischer Datenverfügbarkeit und rechtlicher Kenntnis der Finanzbehörde. Es stellt sicher, dass durch die fortschreitende Digitalisierung keine Aufweichung traditioneller steuerlicher Pflichten erfolgt. Unternehmen aller Branchen sollten daraus ableiten, dass sie interne Steuerprozesse regelmäßig überprüfen und gegebenenfalls anpassen, um Fristversäumnisse und steuerstrafrechtliche Risiken zu vermeiden. Die Entscheidung betont zugleich die Notwendigkeit einer geordneten elektronischen Aktenführung, die künftig auch für die Verwaltung selbst eine stärkere Verpflichtung zur strukturierten Datenintegration begründen dürfte.
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