Die weltweiten Auswirkungen der Russland-Sanktionen zeigen zunehmend, wie komplex das Zusammenspiel zwischen europäischem Wirtschaftsrecht, Zollrecht und völkerrechtlichen Verpflichtungen ist. Eine aktuelle Entscheidung des Bundesfinanzhofs befasst sich mit einem außergewöhnlichen Fall: Ein havarierter Öltanker, der mit sanktionierter russischer Ladung beladen war, trieb manövrierunfähig in deutsche Hoheitsgewässer. Das zuständige Hauptzollamt hatte das Schiff und seine Ladung sichergestellt und deren Einziehung sowie Verwertung angeordnet. Der BFH hob diese Maßnahmen im vorläufigen Rechtsschutz auf – ein Signal mit erheblicher Bedeutung für alle Marktteilnehmer, die im internationalen Warenverkehr tätig sind, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, Spediteure, Reedereien, aber auch für Beschaffungsunternehmen in der Energie- und Rohstoffbranche.
Rechtlicher Hintergrund und Ausgangssachverhalt
Ausgangspunkt der BFH-Entscheidung war die Sicherstellung eines Öltankers, der von Russland nach Indien unterwegs war und in der Ostsee havarierte. Das Schiff wurde aufgrund der EU-Sanktionsverordnung gegen Russland, konkret nach Artikel 3i Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 833/2014, und der späteren Erweiterung durch Verordnung (EU) 2025/395 in den Anhang XLII aufgenommen. Dieser Anhang listet Schiffe, die im Verdacht stehen, zur Umgehung der Sanktionen zu dienen und im Sprachgebrauch der Medien als sogenannte Schattenflotte bezeichnet werden. Nach der Havarie ordnete das Hauptzollamt die Sicherstellung sowie später die Einziehung und Verwertung an, gestützt auf Artikel 198 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer iv des Zollkodex der Union in Verbindung mit § 13 Absatz 1 des Zollverwaltungsgesetzes. Gegen diese Maßnahme wandten sich die Eigentümer und Charterer und erhielten zunächst beim Finanzgericht vorläufigen Rechtsschutz zugesprochen. Der BFH bestätigte nun diese Entscheidung mit Beschlüssen vom 26. November 2025 (VII B 81/25 (AdV) und VII B 80/25 (AdV)) und stellte klar, dass erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Einziehung bestünden.
Rechtliche Bewertung durch den Bundesfinanzhof und Begründung der Entscheidung
Der BFH stellte mehrere entscheidende rechtliche Unklarheiten fest, die gegen eine sofortige Vollziehung sprachen. Erstens sei nicht abschließend geklärt, ob das vom Unionsrecht verbotene „Verbringen in die Union“ bereits dann vorliegt, wenn ein Schiff ohne eigenen Willensentschluss infolge technischer Defekte oder Witterungsbedingungen in EU-Gewässer gelangt. Da die Sanktionsverordnung auf ein aktives Verbringen abstellt, könnte ein bloß passives Eintreiben nicht tatbestandsmäßig sein. Zweitens bleibt offen, ob die Regelungen auch ein „Verbringen aus der Union“ erfassen – ein Aspekt, der insbesondere für die Rückführung havarierter Schiffe von Bedeutung ist. Drittens hob der BFH hervor, dass völkerrechtliche Garantien wie das in Artikel 17 und 18 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen verankerte Recht auf friedliche Durchfahrt sowie das Nothafenrecht in die Auslegung einzubeziehen seien.
Darüber hinaus sei bislang unklar, ob die Ausnahmeregelung des Artikels 3s Absatz 3 derselben EU-Verordnung, die gelisteten Schiffen in Notsituationen das Anlaufen eines sicheren Hafens erlaubt, auch das anschließende Auslaufen zur Fortsetzung der Reise umfasst. Diese Auslegung ist insbesondere für den Fall relevant, dass ein Schiff erst nach seiner Havarie gelistet wird, wie im entschiedenen Fall geschehen. Der BFH sah deshalb hinreichende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Einziehung und Verwertung und entschied, diese Maßnahmen bis zur Klärung im Hauptsacheverfahren auszusetzen.
Folgen für Unternehmen und Branchen in der Praxis
Für Wirtschaftsbeteiligte hat die Entscheidung erhebliche Signalwirkung. Reedereien, insbesondere kleinere Anbieter und Chartergesellschaften, sehen sich häufig mit der Herausforderung konfrontiert, Sanktionsregelungen korrekt umzusetzen, ohne gleichzeitig ihre wirtschaftliche Handlungsfähigkeit zu gefährden. Die BFH-Entscheidung verdeutlicht, dass Behörden bei der Anwendung von Sanktionsvorschriften nicht allein auf formale Kriterien abstellen dürfen, sondern stets den Zweck der Normen sowie völkerrechtliche Rahmenbedingungen berücksichtigen müssen. Für Handelsunternehmen und Energieimporteure bedeutet dies mehr Rechtssicherheit, sofern Notsituationen wie Havarien nicht automatisch zu einer Einziehung führen dürfen.
Für Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser und andere Unternehmen der kritischen Infrastruktur, die zunehmend auf komplexe internationale Lieferketten angewiesen sind, stellt die Entscheidung ein wichtiges Signal dar, dass EU-Sanktionsrecht nicht blind gegenüber humanitären oder technischen Ausnahmefällen ist. Auch Onlinehändler, die international agieren und mit Drittlandswaren arbeiten, sind gut beraten, ihre Compliance-Systeme regelmäßig zu aktualisieren, um ungewollte Verstöße gegen Sanktionsverfahren zu vermeiden. In der Beratungspraxis der Steuerkanzleien wird zunehmend erkennbar, dass die Schnittstellen zwischen Steuerrecht, Zollrecht und Exportkontrolle an Bedeutung gewinnen. Unternehmen, gleich welcher Größe, sollten entsprechende Prozesse dokumentieren und bei Behördenanfragen sachlich fundiert reagieren können.
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht unterstreicht die Entscheidung die Wichtigkeit einer vorausschauenden Risikoanalyse und einer systematischen Einbindung rechtlicher Prüfmechanismen in die innerbetriebliche Organisation. Unternehmen, die mit sanktionierten Regionen oder Gütern zu tun haben, müssen verstärkt auf eine interne Aufgabenteilung zwischen Buchhaltung, Compliance und Rechtsabteilung achten. Auch für Finanzinstitute bedeutet die Entscheidung eine Sensibilisierung, da Sicherheiten oder Versicherungen, die auf sanktionierte Gegenstände entfallen, nur eingeschränkt verwertet werden dürfen. Somit entfaltet die BFH-Entscheidung eine über den Einzelfall hinausgehende Wirkung für alle Akteure, die im internationalen Handel oder im Transportgeschäft tätig sind.
Fazit: Bedeutung für Unternehmenspraxis und rechtssichere Prozesse
Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs schafft ein wichtiges Korrektiv zwischen europäischem Sanktionsrecht, nationaler Zollpraxis und völkerrechtlichen Pflichten. Sie erinnert daran, dass selbst im Rahmen weitreichender Embargos eine Abwägung zwischen politischer Zielsetzung und rechtlicher Verhältnismäßigkeit erforderlich bleibt. Für die betroffenen Wirtschaftsbeteiligten bietet der Beschluss eine gewisse Rechtssicherheit und zeigt zugleich, dass Gerichte einer zu weitgehenden Interpretation von Sanktionsregelungen Grenzen setzen. Kleine und mittelständische Unternehmen, Reedereien sowie Importeure können daraus ableiten, dass sachgerechte Dokumentation und nachvollziehbare Entscheidungsprozesse in Krisensituationen Schutz vor wirtschaftlichen Fehlentscheidungen und behördlichen Zugriffen bieten.
Unsere Kanzlei unterstützt mittelständische und kleine Unternehmen dabei, ihre buchhalterischen und steuerlichen Abläufe zu digitalisieren, Prozesse zu optimieren und so langfristig effizienter und kostensparender zu arbeiten. Die Integration digitaler Lösungen in die Finanzorganisation hat sich dabei als zentraler Erfolgsfaktor erwiesen – sowohl im Inlandsgeschäft als auch im internationalen Warenverkehr.
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