Mitwirkungspflichten und Rügerecht im finanzgerichtlichen Verfahren
Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluss vom 20. Oktober 2025 (Az.: X B 44/24) eine Entscheidung getroffen, die für Unternehmen, Steuerberatende und Rechtsvertreter von erheblicher Bedeutung ist. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob ein Beteiligter sein sogenanntes Rügerecht verliert, wenn er einer mündlichen Verhandlung unentschuldigt fernbleibt und damit entscheidende prozessuale Mitwirkungspflichten verletzt. Das Rügerecht bezeichnet die Möglichkeit, Verfahrensfehler, also etwa das Übergehen eines Beweisantrags oder die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes nach der Finanzgerichtsordnung, in einem weiteren Rechtsgang geltend zu machen.
In der zugrunde liegenden Sache ging es um einen Gewerbetreibenden, dem das Finanzamt wegen ungeklärter Bareinzahlungen Hinzuschätzungen von Gewinnen und Umsätzen zugerechnet hatte. Der Steuerpflichtige hatte Einspruch eingelegt, konnte jedoch die Herkunft des Geldes nicht belegen und versäumte es, trotz mehrfacher gerichtlicher Aufforderungen entsprechende Nachweise zu erbringen. Nachdem das Finanzgericht die Sache zur mündlichen Verhandlung angesetzt und auf eine mögliche Entscheidung über einen Beweisantrag hingewiesen hatte, erschien der Prozessbevollmächtigte der Klägerseite ohne ausreichende Entschuldigung nicht zum Termin. Später rügte die Klägerseite, das Gericht habe den Beweisantrag zu Unrecht unbeachtet gelassen.
Der Bundesfinanzhof verwarf die Beschwerde als unzulässig. Er stellte klar, dass ein Beteiligter, der trotz ausdrücklicher gerichtlicher Hinweise unentschuldigt der mündlichen Verhandlung fernbleibt, sein Recht verwirkt, Verfahrensfehler wie die Nichtberücksichtigung eines Beweisantrags geltend zu machen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Gericht vorab mitgeteilt hat, dass in der Verhandlung über das weitere Vorgehen entschieden werden soll.
Rechtliche Einordnung und Argumentation des Bundesfinanzhofs
Der Beschluss knüpft an den Grundsatz der Wechselwirkung zwischen dem richterlichen Untersuchungsgrundsatz und der Mitwirkungspflicht der Beteiligten an. Der Untersuchungsgrundsatz nach § 76 der Finanzgerichtsordnung verpflichtet das Gericht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Gleichzeitig müssen die Verfahrensbeteiligten aktiv dazu beitragen, dass das Gericht die notwendigen Fakten ermitteln kann. Dieses Prinzip einer geteilten Verantwortung ist zentral für das finanzgerichtliche Verfahren, das stärker als andere Verfahrensordnungen auf Kooperation und Offenlegung beruht.
Der Bundesfinanzhof stellte klar, dass der Untersuchungsgrundsatz keine Einbahnstraße sei. Wer ordnungsgemäß geladen ist, aber der mündlichen Verhandlung fernbleibt, verzichtet damit auf die Möglichkeit, auf die Tatsachenermittlung einzuwirken. Damit ist das Rügerecht insoweit verwirkt, als dass der Betroffene einen Verfahrensverstoß – beispielsweise die unterlassene Beweisaufnahme – später nicht mehr geltend machen kann.
Die Argumentation des Gerichts fußt auf dem Zusammenspiel mehrerer Normen. Nach § 91 Absatz 2 der Finanzgerichtsordnung kann auch ohne anwesenden Vertreter verhandelt und entschieden werden, wenn ein Beteiligter ordnungsgemäß geladen wurde. Zugleich erlaubt § 155 in Verbindung mit § 295 der Zivilprozessordnung den Verzicht auf die Geltendmachung bestimmter Verfahrensfehler, insbesondere wenn dieser Verzicht durch Unterlassen erfolgt. Der Bundesfinanzhof betont, dass ein solcher Verzicht auch konkludent durch Nichterscheinen eintreten kann, wenn das Gericht ausdrücklich erklärt hat, dass in der anberaumten Sitzung über Beweisanträge entschieden werde.
- Das Gericht muss den Beteiligten rechtzeitig darauf hinweisen, dass über den Beweisantrag in der Verhandlung entschieden wird – dies war hier der Fall.
- Der Beteiligte muss die Gelegenheit erhalten, seine Position darzulegen oder zu ergänzen.
- Bleibt der Beteiligte dieser Gelegenheit unentschuldigt fern, verliert er sein Rügerecht hinsichtlich der Entscheidung über die Beweisanträge.
Diese dogmatische Herleitung ist für die Praxis bedeutsam, da sie die formale Ordnung des finanzgerichtlichen Verfahrens stärkt und klarstellt, dass eine bewusste Prozessabwesenheit nicht durch nachträgliche Beschwerde korrigiert werden kann. Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde dient laut Bundesfinanzhof nicht dazu, versäumte Beteiligungen zu kompensieren oder einen zweiten Versuch zur Beweisführung zu eröffnen.
Konsequenzen für Steuerpflichtige, Berater und Unternehmen
Für Steuerpflichtige und ihre Beraterinnen und Berater, insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen, Onlinehändler, Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäuser, hat dieser Beschluss unmittelbare praktische Relevanz. Er verdeutlicht, dass prozessuale Sorgfalt und rechtzeitige Mitwirkungspflichten elementar sind. In Verfahren mit steuerlicher Außenprüfung, bei Hinzuschätzungen oder bei Streit über Betriebsausgaben kommt es regelmäßig auf eine umfassende Dokumentation und die aktive Wahrnehmung von Terminen an. Die Entscheidung macht deutlich, dass selbst formale Versäumnisse im Prozess fatale Auswirkungen auf die Rechtsposition eines Unternehmens haben können.
Für Steuerberatende und Finanzanwältinnen sowie interne Steuerabteilungen ist die Entscheidung ein Hinweis darauf, dass eine frühzeitige Kommunikation mit dem Gericht und die rechtzeitige Vorlage von Nachweisen entscheidend sind, um das Rügerecht zu wahren. Gerade bei digitalen Unternehmen und Onlinehändlern, bei denen Geldströme häufig über verschiedene Konten und Zahlungsdienstleister verlaufen, ist die Nachvollziehbarkeit von Zahlungsflüssen zentral. Das Nichtvorlegen entsprechender Unterlagen kann nicht nur zu Schätzungen führen, sondern auch zu einem nachhaltigen Verlust der rechtlichen Verteidigungsmöglichkeiten im Prozess.
Auch für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen gilt die Bedeutung dieser Rechtsprechung, da dort komplexe Finanzierungsstrukturen bestehen und in Prüfungsverfahren oft Nachweispflichten hinsichtlich Fördermitteln oder Eigenmitteln entstehen können. Wer gerichtliche Aufforderungen zur Mitwirkung ignoriert, riskiert, sich der Chance auf eine sachliche Klärung zu begeben. Für Handwerksbetriebe oder kleine Handelsunternehmen wiederum ist der Beschluss eine Mahnung, dass auch in scheinbar formalen Verfahrensschritten eine hohe Disziplin erforderlich ist. Die Einhaltung von Terminen, die Prüfung gerichtlicher Hinweise und die aktive Teilnahme an Verhandlungen sind nicht nur Formalien, sondern Schutzmechanismen der eigenen Rechtsposition.
Für Finanzinstitute kann die Entscheidung insofern bedeutsam sein, als sie dokumentiert, dass die Rechtsprechung die Eigenverantwortung der Beteiligten nachhaltig stärkt. Bei kreditfinanzierten Unternehmensstrukturen wird künftig noch stärker darauf zu achten sein, dass Darlehensnachweise und Zahlungsflüsse jederzeit belegbar sind, um Schätzungen und Verfahrensnachteile zu vermeiden.
Unternehmenspraxis und prozessuale Sorgfalt im Fokus
Die Entscheidung zeigt, dass in finanzgerichtlichen Verfahren Prozessdisziplin und aktive Mitwirkung die Grundlage für ein erfolgreiches Verteidigungsmanagement bilden. Für kleinere Unternehmen kann es sinnvoll sein, frühzeitig rechtliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, um Fristen, Verfahrensregeln und Nachweispflichten korrekt zu erfüllen. Besonders in steuerstrafrechtlich sensiblen Bereichen, wie etwa bei ungeklärten Bareinzahlungen oder Darlehensverhältnissen zwischen Privat- und Betriebsvermögen, kann eine unzureichende Mitwirkung langfristige Folgen haben. Steuerberatende Kanzleien sollten daher darauf achten, Mandanten proaktiv auf diese Mitwirkungspflichten hinzuweisen und entsprechende Unterlagen strukturiert vorzubereiten.
Der Beschluss des Bundesfinanzhofs betont erneut, dass der Untersuchungsgrundsatz kein Auffangnetz für prozessuale Nachlässigkeit ist. Die aktive Beteiligung an der Beweisaufnahme ist integraler Bestandteil der Verfahrensgerechtigkeit. Wer auf die Wahrnehmung dieser Pflicht verzichtet, verliert nicht nur das Rügerecht, sondern auch wichtige strategische Möglichkeiten zur Verteidigung der eigenen steuerlichen Position. Die Rechtsprechung stärkt damit die Transparenz und Effizienz der Verfahren und setzt klare Grenzen für rein taktisches Prozessverhalten.
Schlussfolgerung und Empfehlung für die Praxis
Der Beschluss verdeutlicht eine strikte Linie des Bundesfinanzhofs: Nur wer seine prozessualen Pflichten ernst nimmt, kann seine Rechte wahren. Für Unternehmen, gleich ob es sich um Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser, Handwerksbetriebe oder Onlinehändler handelt, bedeutet dies, dass in allen steuerlichen Auseinandersetzungen eine vollständige und rechtzeitige Mitwirkung unabdingbar ist. Wer Verhandlungstermine versäumt oder Nachweise verspätet einreicht, kann im Beschwerdeverfahren keinen Ausgleich mehr erwarten. Damit stärkt die Entscheidung die Eigenverantwortung der Unternehmenden und ihrer Berater und verschiebt den Fokus auf Effizienz und Prozessklarheit.
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