Grunderwerbsteuerliche Doppelbelastung bei Anteilsübertragungen: Hintergrund und aktuelle Rechtslage
Die jüngst veröffentlichte Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 27. Oktober 2025, Aktenzeichen II B 47/25 (AdV), befasst sich mit einer für viele Unternehmen hochrelevanten Frage der grunderwerbsteuerlichen Behandlung von Gesellschaftsanteilstransaktionen. Im Mittelpunkt steht die Situation, in der beim Erwerb sämtlicher Anteile an einer Grundstück haltenden Gesellschaft, insbesondere einer GmbH, der Abschluss des schuldrechtlichen Kaufvertrags („Signing“) und die tatsächliche Übertragung der Anteile („Closing“) zeitlich auseinanderfallen. Diese zeitliche Entkopplung ist bei Unternehmenskäufen, M&A-Prozessen und gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierungen, aber auch bei Beteiligungserwerben durch Kliniken, Pflegeeinrichtungen oder Onlinehändler keine Seltenheit. Streitentscheidend war die Frage, ob Finanzämter für denselben Erwerbsvorgang zweimal Grunderwerbsteuer festsetzen dürfen – einmal für das Verpflichtungsgeschäft und einmal für den Vollzug. Das Finanzgericht Baden-Württemberg hatte zuvor eine solche Doppelbesteuerung gebilligt, der Bundesfinanzhof jedoch setzte die Vollziehung des zweiten Steuerbescheids aus und stellte inhaltlich klar, dass erhebliche rechtliche Zweifel an der Zulässigkeit einer doppelten Grunderwerbsteuerfestsetzung bestehen.
Rechtsgrundlage der Entscheidung sind insbesondere § 1 Absatz 2b sowie Absatz 3 Nummer 1 und Nummer 3 des Grunderwerbsteuergesetzes. Diese Vorschriften beschreiben, unter welchen Voraussetzungen die Übertragung von Gesellschaftsanteilen an grundbesitzhaltenden Gesellschaften eine grunderwerbsteuerpflichtige Transaktion darstellt. § 1 Absatz 2b erfasst Fälle, in denen sich der Gesellschafterbestand innerhalb von zehn Jahren vollständig ändert, während § 1 Absatz 3 unter anderem den Anspruch auf Übertragung sämtlicher Gesellschaftsanteile an einer grundbesitzenden Gesellschaft als steuerpflichtigen Vorgang definiert. Der Einleitungssatz des Absatzes 3 sieht dabei ausdrücklich einen Vorrang der Absätze 2a und 2b vor: Eine Besteuerung nach Absatz 3 darf nur erfolgen, soweit keine Tatbestände der Absätze 2a oder 2b greifen. Gerade auf diese Vorrangregelung stützt sich der Bundesfinanzhof nun in seiner Beurteilung.
Rechtliche Bewertung und Argumentation des Bundesfinanzhofs
Die Entscheidung des II. Senats zeigt deutlich die dogmatische Spannung zwischen den grunderwerbsteuerlichen Tatbeständen. Der Bundesfinanzhof legt dar, dass die gleichzeitige Festsetzung zweier Steuerbescheide über denselben wirtschaftlichen Vorgang unzulässig sein kann, wenn dem Finanzamt bereits im Zeitpunkt der zweiten Festsetzung bekannt war, dass der tatbestandlich vorrangige Erwerbstatbestand, also die tatsächliche Anteilsübertragung nach § 1 Absatz 2b Grunderwerbsteuergesetz, erfüllt war. Damit wird der Grundsatz bekräftigt, dass das Steueraufkommen nicht durch eine doppelte Belastung desselben Lebenssachverhalts erhöht werden darf. Die Vollziehung des zweiten Bescheids wurde daher ausgesetzt, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit im Sinne des § 69 der Finanzgerichtsordnung bestanden.
Rechtstechnisch gründet die Entscheidung auf einer systematischen Auslegung des Gesetzeswortlauts und auf teleologischen Erwägungen. Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs lässt sich dem Text des § 1 Absatz 3 Grunderwerbsteuergesetz kein Hinweis darauf entnehmen, dass der Vorrang des Absatzes 2b entfällt, wenn Signing und Closing zeitlich getrennt stattfinden. Auch die Einführung des § 16 Absatz 4a und Absatz 5 durch das Jahressteuergesetz 2022 änderte daran nichts. Diese Regelungen betreffen die nachträgliche Aufhebung oder Änderung von Steuerfestsetzungen, nicht die rangmäßige Abgrenzung zwischen Tatbeständen. Die Finanzverwaltung hatte in gleichlautenden Ländererlassen versucht, diesen Vorrang zu relativieren. Der Bundesfinanzhof stellt dem nun eine klare Grenze entgegen.
Kernargumente des Gerichts
- Eine doppelte Festsetzung der Grunderwerbsteuer für ein und denselben Vorgang widerspricht dem Einleitungssatz des § 1 Absatz 3 Grunderwerbsteuergesetz, wonach eine Besteuerung nach Absatz 3 nur dann erfolgt, wenn die Absätze 2a oder 2b keine Anwendung finden.
- Selbst eine verspätete Anzeige des Closings durch den Notar rechtfertigt keine endgültige Doppelbelastung. Eine bloße Formwidrigkeit darf nach Auffassung des Gerichts nicht zu einer materiell höheren Steuer führen.
- Ein solcher doppelter Ansatz könnte gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verstoßen, da er ohne sachlich gerechtfertigten Grund dieselbe wirtschaftliche Leistung mehrfach besteuert.
Aus der Perspektive der Steuerverfahrenspraxis ist zudem bedeutsam, dass der Bundesfinanzhof den Begriff der „ernstlichen Zweifel“ weit auslegt und damit den Rechtsschutz im Aussetzungsverfahren stärkt. Unternehmen können die Vollziehung eines Steuerbescheids aussetzen lassen, wenn die Rechtslage unklar ist, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges noch nicht überwiegt. Diese weite Auslegung schützt insbesondere kleine und mittelständische Gesellschaften vor Liquiditätsbelastungen durch vorläufig unberechtigte Steuerforderungen.
Auswirkungen für Unternehmen, Steuerberatung und Finanzpraxis
Für Unternehmen jeder Größe – vom regional tätigen Mittelständler über Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser bis hin zu E-Commerce-Anbietern – schafft die Entscheidung Rechtssicherheit und Planungsspielräume bei gesellschaftsrechtlichen Transaktionen. M&A-Berater und Steuerkanzleien müssen künftig noch stärker den Zeitpunkt von Signing und Closing dokumentieren und deren steuerliche Relevanz getrennt bewerten. Wird die Anteilsübertragung erst später vollzogen, sollte das Closing stets umgehend notariell angezeigt werden, um eine doppelte Grunderwerbsteuerfestsetzung zu vermeiden. Besonders bei immobilienhaltenden Gesellschaften, etwa im Gesundheitswesen oder im Bereich der Projektentwicklung, kann eine präzise steuerliche Strukturierung erhebliche Einsparpotenziale erschließen.
Auch Finanzinstitutionen und Banken profitieren von dieser Entscheidung, weil sie bei der Finanzierung von Unternehmensübernahmen ein geringeres Risiko unerkannter Steuerlasten tragen. Die geänderte Rechtsauffassung erleichtert es, Sicherheiten und Covenants bei Akquisitionsfinanzierungen eindeutig zu bemessen. Gleichzeitig sollten Finanzabteilungen und steuerliche Berater enger kooperieren, um die Grunderwerbsteuer in der Liquiditätsplanung korrekt einzuordnen. Kleine und mittlere Unternehmen erhalten durch diese Entscheidung mehr Handlungssicherheit in Situationen, in denen sich Vertragsabschluss und Anteilseintragung zeitlich verlängern. Für Steuerberater bedeutet dies, dass die Kommunikation mit den Finanzämtern stärker auf den tatsächlichen Vollzug des Anteilserwerbs abstellen sollte. Die Finanzbehörden sind nach dieser Rechtsprechung gehalten, Doppelbesteuerungen von Amts wegen zu vermeiden, sobald ihnen der spätere Übergang der Anteile bekannt ist.
Unternehmen mit komplexen Konzernstrukturen, wie Pflegeholdinggesellschaften oder Krankenhausverbünde, sollten den Anteilserwerbsvorgang zudem in Konzernbuchhaltung und Steuerdeklaration konsistent abbilden. Eine lückenlose Dokumentation ist entscheidend, um im Falle von Betriebsprüfungen den Vorrang der Besteuerung nach § 1 Absatz 2b Grunderwerbsteuergesetz nachweisen zu können. Auf der steuerlichen Beraterseite ist das Verständnis der Rechtslage daher Pflicht, um Mandanten sachgerecht über Risiken und Möglichkeiten der AdV (Aussetzung der Vollziehung) zu informieren.
Praxisorientiertes Fazit und Handlungsempfehlungen
Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur Grunderwerbsteuer bei zeitlich getrenntem Signing und Closing ist ein wichtiger Hinweis für die tägliche Beratungspraxis im Unternehmens- und Immobilientransaktionsrecht. Sie stärkt die Position der Steuerpflichtigen und schärft die Grenzen der grunderwerbsteuerlichen Tatbestände. Maßgeblich ist, dass eine wirtschaftlich einheitliche Anteilsübertragung nur einmal besteuert werden darf, auch wenn sie rechtlich in zwei Akte unterteilt ist. Für Unternehmer, insbesondere kleine und mittelständische Gesellschaften, bedeutet das: Verträge sollten mit steuerlicher Sorgfalt gestaltet und zeitnahe Anzeigen an das Finanzamt sichergestellt werden, um Doppelfestsetzungen zu verhindern. Von Kanzleien, die in der steuerlichen Transaktionsbegleitung tätig sind, wird erwartet, die Vorgänge genau zu prüfen und die Berufung auf die Vorrangregel des § 1 Absatz 3 Grunderwerbsteuergesetz im Streitfall mit Nachdruck zu vertreten.
Unsere Kanzlei unterstützt Unternehmen verschiedener Branchen – von kleinen Betrieben über mittelständische Firmen bis hin zu Einrichtungen im Gesundheitswesen und Onlinehandel – bei der digitalen Optimierung ihrer Buchhaltungs- und Steuerprozesse. Wir verbinden juristische Expertise mit praxisorientierter Prozessoptimierung und schaffen dadurch nachhaltige Effizienz- und Kostenvorteile im Rechnungswesen sowie in der steuerlichen Compliance.
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