Einordnung des Begriffs außergewöhnlicher Umstände
Das europäische Luftverkehrsrecht kennt mit der Verordnung Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates eine zentrale Regelung, die Fluggästen im Falle von Annullierungen, großen Verspätungen oder Nichtbeförderungen Ausgleichs- und Unterstützungsrechte einräumt. Nach dieser Regelung können Luftfahrtunternehmen unter bestimmten Bedingungen von der Pflicht zur Zahlung einer Ausgleichsleistung befreit sein, wenn sogenannte außergewöhnliche Umstände vorliegen. Unter außergewöhnlichen Umständen sind Ereignisse zu verstehen, die trotz Anwendung aller zumutbaren Maßnahmen nicht hätten vermieden werden können. Der Europäische Gerichtshof hat nun mit Urteil in der Rechtssache C-399/24 ausdrücklich klargestellt, dass ein Blitzeinschlag in ein Flugzeug einen solchen außergewöhnlichen Umstand darstellen kann, sofern er die Durchführung des Fluges tatsächlich beeinträchtigt.
Damit bestätigt das Gericht, dass technische oder natürliche Ereignisse außerhalb des beherrschbaren Risikosphärs des Unternehmens in den Anwendungsbereich des Begriffs fallen können, sofern sie nicht Teil der normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens sind. Die Begründung knüpft an die zentrale Zielsetzung der Verordnung an, den Schutz der Fluggäste mit der Gewährleistung der Flugsicherheit in Einklang zu bringen.
Prüfung der Voraussetzungen durch den Europäischen Gerichtshof
Der Anlassfall betraf ein Flugzeug der Austrian Airlines, das kurz vor der Landung von einem Blitz getroffen wurde. Aufgrund der erforderlichen Sicherheitsüberprüfungen konnte die Maschine den folgenden Flug nicht wie vorgesehen durchführen. Der Passagier, der für den nächsten Flug gebucht war, erreichte sein Ziel mit mehr als sieben Stunden Verspätung. Die von ihm abgetretene Forderung auf Ausgleichszahlung wurde von AirHelp gegenüber dem Luftfahrtunternehmen geltend gemacht. Austrian Airlines berief sich darauf, dass der Blitzeinschlag mit den anschließenden Sicherheitskontrollen außerhalb des normalen Betriebsrisikos liege und somit ein außergewöhnlicher Umstand sei.
Der Gerichtshof bestätigte diese Sichtweise. Entscheidend war, dass der Blitzeinschlag zu obligatorischen Sicherheitsinspektionen führte, die eine zeitgerechte Freigabe des Flugzeugs verhinderten. Ein derartiges Ereignis steht nach Auffassung der Richter weder in unmittelbarem Zusammenhang mit der technischen Funktionsweise des Flugzeugs noch ist es vorhersehbar oder von der Fluggesellschaft steuerbar. Das Urteil verdeutlicht, dass Sicherheitsüberprüfungen, die als Reaktion auf unvorhersehbare Ereignisse erfolgen, nicht zu Lasten der Fluggesellschaft ausgelegt werden dürfen, wenn sie der Gewährleistung der Flugsicherheit dienen.
Zumutbare Maßnahmen und Beweislast der Unternehmen
Die Entscheidung stellt jedoch klar, dass die Berufung auf außergewöhnliche Umstände allein nicht genügt, um von der Zahlungspflicht befreit zu werden. Das Luftfahrtunternehmen muss zusätzlich nachweisen, dass es alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um die Auswirkungen dieses Ereignisses zu vermeiden oder zu begrenzen. Der EuGH verweist hierbei auf das Kriterium der Zumutbarkeit als dynamischen Prüfmaßstab, wonach die eingesetzten personellen, materiellen und finanziellen Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Unternehmensgröße und -kapazität stehen müssen.
Für die Praxis bedeutet dies, dass Fluggesellschaften eine sorgfältige Dokumentation ihrer präventiven und reaktiven Maßnahmen führen sollten. Dazu gehören insbesondere Nachweise über Wetteranalysen, operative Entscheidungen zur Umplanung von Flugrouten und Aufzeichnungen zur Einhaltung von Sicherheitsvorschriften. Nur wenn diese Unterlagen im Streitfall nachvollziehbar belegen, dass trotz zumutbarer Vorkehrungen eine erhebliche Verspätung unvermeidbar war, kann eine Ausgleichspflicht rechtssicher entfallen.
Das Urteil verdeutlicht zugleich, dass technische Störungen, die infolge unzureichender Wartung oder unterlassener Kontrollen entstehen, nicht als außergewöhnliche Umstände gelten. Damit verfestigt der Gerichtshof eine differenzierte Linie: Während Ereignisse wie Vogel- oder Blitzschlag typischerweise außerhalb der Einflussmöglichkeiten liegen, zählen Wartungsmängel zum Kern der betrieblichen Verantwortung.
Praxisfolgen für Luftfahrt und andere Branchen
Für Luftfahrtunternehmen ergeben sich aus der Entscheidung wichtige Hinweise zur Gestaltung interner Compliance- und Risikomanagementsysteme. Die rechtliche Bewertung betont den Vorrang der Sicherheit vor wirtschaftlichen Erwägungen: Unternehmen dürfen nicht dazu verleitet werden, verpflichtende Kontrollen zu verkürzen, um eine pünktliche Durchführung von Flügen zu gewährleisten. Vielmehr wird ihnen ein deutlicher Anreiz gegeben, sicherheitsorientierte Entscheidungen zu dokumentieren und transparent zu gestalten. Dies stärkt nicht nur die eigene Rechtsposition, sondern fördert auch das Vertrauen der Passagiere in die Maßnahmen der Fluggesellschaft.
Die Grundsätze des Urteils reichen über den Luftverkehr hinaus. Auch in anderen Branchen, in denen gesetzliche oder behördliche Sicherheitsprüfungen zum Betriebsstandard gehören – etwa in der Medizintechnik, im Transportwesen oder im Energiesektor – lässt sich die Argumentationslinie des Gerichtshofs übertragen. Unternehmen, die strenge regulatorische Vorgaben befolgen müssen, können sich in vergleichbaren Fällen auf den Vorrang von Sicherheitsinteressen berufen, sofern sie die objektive Unvermeidbarkeit und ihre ordnungsgemäße Reaktion belegen können. Für kleine und mittelständische Betriebe bedeutet dies, dass die Einführung von klaren internen Prozessen zur Risiko- und Maßnahmendokumentation entscheidend ist, um Haftungsrisiken zu minimieren und rechtssicher zu handeln.
Fazit und Handlungsempfehlung
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs schafft Rechtssicherheit in einem Bereich, der bislang häufig von Einzelfallabwägungen geprägt war. Sie bestätigt, dass Naturereignisse wie Blitzeinschläge außergewöhnliche Umstände darstellen können, wenn sie die Durchführung des Fluges tatsächlich verhindern und zu Pflichtkontrollen führen, die nicht im Einflussbereich des Unternehmens liegen. Zugleich verdeutlicht sie, dass ein Luftfahrtunternehmen nur dann von der Ausgleichspflicht befreit wird, wenn es alle zumutbaren Maßnahmen nachweislich ergriffen hat. Damit ist die sorgfältige Prozessdokumentation der Schlüssel zu einer rechtssicheren Verteidigung.
Für Unternehmen jeder Größe gilt die Lehre, dass Compliance- und Sicherheitsvorgaben nicht nur als Pflicht, sondern als wirtschaftlicher Schutzschirm zu verstehen sind. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen sollten ihre internen Abläufe regelmäßig überprüfen, um Nachweise über Reaktionsfähigkeit und Risikokontrolle effizient bereitstellen zu können. Unsere Kanzlei unterstützt Unternehmen dabei, solche Prozesse rechtssicher und digital abzubilden. Wir betreuen kleine und mittelständische Betriebe verschiedenster Branchen, optimieren Buchhaltungs- und Verwaltungsprozesse und schaffen durch gezielte Digitalisierung nachhaltige Kosten- und Effizienzvorteile.
Gerichtsentscheidung lesen