Prüfung der Rechtmäßigkeit steuerlicher Bescheide im Lichte fehlender Akten
Die Aussetzung der Vollziehung stellt ein wesentliches Instrument des Steuerverfahrensrechts dar, um die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts vorübergehend auszusetzen, solange über dessen Rechtmäßigkeit noch nicht abschließend entschieden wurde. Grundlage ist § 361 der Abgabenordnung, der regelt, dass die Vollziehung eines angefochtenen Bescheides auf Antrag ganz oder teilweise auszusetzen ist, wenn erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen. Diese Vorschrift dient dem Schutz des Steuerpflichtigen vor irreparablen Nachteilen, die durch eine später als rechtswidrig erkannte Vollziehung entstehen könnten.
Das Finanzgericht Münster hat mit Beschluss vom 29. September 2025 (Az. 1 V 1595/25 E) eine praxisrelevante Entscheidung getroffen, die die Bedeutung einer ordnungsgemäßen Aktenführung durch die Finanzverwaltung unterstreicht. In dem entschiedenen Fall wurde einem Steuerpflichtigen die Aussetzung der Vollziehung seiner Einkommensteuerbescheide gewährt, weil das Finanzamt die entscheidungserheblichen Akten nicht vollständig vorgelegt hatte. Der Fall verdeutlicht exemplarisch, welche Konsequenzen sich ergeben können, wenn den Gerichten wesentliche Prüfungsunterlagen nicht zur Verfügung gestellt werden.
Hintergründe der Entscheidung und rechtliche Einordnung
Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem ein Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH mit geänderten Einkommensteuerbescheiden konfrontiert war. Diese Bescheide basierten auf Erkenntnissen aus einer Steuerfahndungs- und Betriebsprüfung, die zu Hinzuschätzungen und dem Ansatz sogenannter verdeckter Gewinnausschüttungen geführt hatten. Eine verdeckte Gewinnausschüttung beschreibt nach ständiger Rechtsprechung eine Vermögensminderung bei der Kapitalgesellschaft oder eine verhinderte Vermögensmehrung, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist und sich auf den Gewinn der Gesellschaft auswirkt. Sie wird beim Gesellschafter regelmäßig als Einkommen aus Kapitalvermögen erfasst.
Der betroffene Gesellschafter legte Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung der geänderten Bescheide. Das Finanzamt lehnte dies ab, woraufhin das Finanzgericht angerufen wurde. Nach summarischer Prüfung kam der Senat zu dem Ergebnis, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bescheide bestünden. Entscheidend war, dass dem Gericht die Prüfungsberichte und weitere relevante Aktenbestandteile nicht vorgelegt worden waren, obwohl sie mehrmals angefordert worden sind. Damit war eine materielle Überprüfung der angesetzten Hinzuschätzungen unmöglich.
Das Gericht stellte klar, dass die Feststellungslast für steuererhöhende Tatsachen beim Finanzamt liegt. Werden Aktenbestandteile nicht vorgelegt, kann dies zu Lasten der Finanzbehörde gehen. Die Rechtsprechung verlangt, dass für eine sachgerechte Entscheidung im summarischen Verfahren zumindest die wesentlichen Prüfungsberichte und Arbeitsbögen vorliegen müssen. Anderenfalls bleibt die richterliche Kontrolle auf Vermutungen beschränkt, was rechtsstaatlich unzulässig ist.
Praktische Bedeutung für Unternehmen und steuerliche Berater
Für kleine und mittlere Unternehmen zeigt diese Entscheidung eindrucksvoll, wie wichtig eine sorgfältige und nachvollziehbare Aktenführung durch die Finanzverwaltung, aber auch eine strukturierte Dokumentation auf Seiten der Steuerpflichtigen ist. Gerade GmbHs und deren Gesellschafter-Geschäftsführer sollten sicherstellen, dass sie im Rahmen von Betriebsprüfungen Zugriff auf alle relevanten Unterlagen haben und diese vollständig in die Verteidigung ihrer steuerlichen Position einbringen können.
Wenn eine Behörde im Einspruchsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren relevante Unterlagen nicht vorlegt, kann dies zu einer faktischen Beweislastverschiebung führen. Das Finanzgericht hat darauf hingewiesen, dass selbst organisatorische Schwierigkeiten innerhalb der Verwaltung, etwa bei der Beschaffung von Unterlagen aus Steuerfahndungsstellen oder anderen Finanzämtern, keine Rechtfertigung für eine unvollständige Aktenvorlage bieten. Vielmehr muss das Finanzamt sicherstellen, dass das entscheidungserhebliche Tatsachenmaterial lückenlos vorliegt.
Zugleich verdeutlicht der Beschluss, dass ein Steuerpflichtiger selbst in komplexen Verfahren nicht rechtlos gestellt ist. Steuerberater und Fachanwälte sollten ihre Mandanten frühzeitig über die Möglichkeit der Aussetzung der Vollziehung informieren und gegebenenfalls entsprechende Anträge begründen. Dabei ist es zweckmäßig, die bestehende Beweislage präzise zu benennen und auf etwaige Lücken in der Aktenführung hinzuweisen, um ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide zu untermauern.
Fazit und Handlungsempfehlungen für die Praxis
Die Entscheidung des Finanzgerichts Münster stärkt die Rechte der Steuerpflichtigen und betont die verfahrensrechtliche Verantwortung der Finanzverwaltung. Eine unvollständige Aktenführung kann nicht nur die gerichtliche Überprüfung erschweren, sondern unmittelbar zur Gewährung der Aussetzung der Vollziehung führen. Damit zeigt sich, dass Verfahrensfehler erhebliche Auswirkungen auf die Steuerdurchsetzung haben können. Für Unternehmen, insbesondere für mittelständische Betriebe, ist es daher essenziell, bei Betriebsprüfungen und steuerlichen Außenprüfungen die Nachvollziehbarkeit aller Unterlagen sicherzustellen und sich im Streitfall auf eine rechtssichere Verfahrensbasis zu berufen.
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