Grenzüberschreitende Beschäftigung und die Bedeutung des anwendbaren Rechts
In der zunehmend internationalisierten Arbeitswelt stellt sich für viele Unternehmen, insbesondere im Transport- und Logistiksektor sowie für Dienstleister mit grenzüberschreitender Tätigkeit, die Frage, welches nationale Arbeitsrecht auf ihre Beschäftigungsverhältnisse anzuwenden ist. Diese Frage gewinnt immer dann an Brisanz, wenn Arbeitnehmer regelmäßig in mehreren Staaten beschäftigt sind oder ihren Tätigkeitsmittelpunkt während des laufenden Arbeitsverhältnisses verlagern. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat hierzu in der Entscheidung vom 11. Dezember 2025 (Rechtssache C‑485/24) maßgebliche Klarheit geschaffen. Das Urteil verdeutlicht, wie das sogenannte „anwendbare Recht“ nach dem Übereinkommen von Rom bestimmt wird, wenn ein Arbeitnehmer seinen gewöhnlichen Arbeitsort wechselt.
Das anwendbare Recht bezeichnet in der juristischen Terminologie dasjenige nationale Recht, das im Streitfall auf ein grenzüberschreitendes Vertragsverhältnis zur Anwendung gelangt. Im Arbeitsrecht ist diese Bestimmung besonders sensibel, da sie unmittelbare Auswirkungen auf Arbeitnehmerrechte, Sozialversicherungspflichten und die Pflichten des Arbeitgebers hat. Unternehmen, die Beschäftigte in mehreren EU-Staaten einsetzen, müssen daher verstehen, wie diese Normen greifen, um rechtliche Sicherheit zu gewährleisten und Haftungsrisiken zu vermeiden.
Das Übereinkommen von Rom und die entscheidenden Anknüpfungspunkte
Das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht aus dem Jahr 1980, kurz Übereinkommen von Rom, regelt, welches nationale Recht bei Vertragsverhältnissen mit Auslandsbezug maßgeblich ist. Nach Artikel 6 dieses Übereinkommens gilt grundsätzlich das Recht des Staates, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Der gewöhnliche Arbeitsort ist dabei jener Ort, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer im Wesentlichen seine beruflichen Pflichten erfüllt. Sollte sich kein solcher Ort eindeutig bestimmen lassen, wird subsidiär das Recht des Staates herangezogen, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat. Nur wenn die Gesamtumstände eine engere Verbindung zu einem anderen Staat erkennen lassen, kann hiervon abgewichen werden.
Das Gericht hat klargestellt, dass diese Regelung auch dann anzuwenden ist, wenn sich der gewöhnliche Arbeitsort im Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses verlagert, beispielsweise weil ein Fahrer eines internationalen Transportunternehmens zunehmend in einem anderen Land tätig ist. In solchen Fällen ist zunächst zu prüfen, ob sich ein neuer gewöhnlicher Arbeitsort herausgebildet hat, der die bisherige Zuordnung verdrängt. Dabei ist nicht nur ausschlaggebend, an welchen Orten die Arbeit faktisch ausgeübt wird, sondern auch, welche rechtlichen und organisatorischen Verpflichtungen sich daraus für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ergeben, wie etwa sozialversicherungsrechtliche Meldepflichten.
Rechtliche Konsequenzen und praktische Auswirkungen für Arbeitgeber
Für Arbeitgeber mit international tätigen Belegschaften ergibt sich aus der Entscheidung, dass ein einmal gewähltes nationales Arbeitsrecht nicht dauerhaft Bestand hat, wenn sich die tatsächlichen Umstände wesentlich verändern. Auch wenn die Vertragsparteien zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses eine Rechtswahl getroffen haben, darf diese nach dem Übereinkommen von Rom nicht dazu führen, dass Arbeitnehmer den Schutz verlieren, der ihnen durch das zwingende Recht des nach objektiven Kriterien anwendbaren Staates zusteht. Das bedeutet konkret: Wenn ein Fahrer, der nach luxemburgischem Recht beschäftigt wurde, im Laufe der Zeit überwiegend in Frankreich tätig ist, kann das französische Arbeitsrecht aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten vorrangig gelten.
Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen im Transportgewerbe sollten ihre Personalstrukturen kritisch prüfen und darauf achten, ob Beschäftigte regelmäßig in anderen EU-Mitgliedstaaten eingesetzt werden. Sobald sich die Tätigkeitsschwerpunkte verschieben, ist das nationale Arbeitsrecht in seiner Anwendbarkeit zu hinterfragen. Eine mangelnde Anpassung kann schwerwiegende Folgen haben – etwa Bußgelder aufgrund nicht erfüllter Sozialversicherungspflichten oder arbeitsrechtliche Ansprüche nach einem fremden Recht, das für das Unternehmen ungünstiger ist. Arbeitgeber sollten daher interne Prozesse etablieren, um Änderungen in den Arbeitsmustern frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls arbeitsrechtliche Beratung einzuholen.
Für Branchen wie Pflege, technische Dienstleistungen oder spezialisierte Handwerksbetriebe, die Mitarbeitende zur Leistungserbringung häufig grenzüberschreitend entsenden, gilt dies ebenso. Eine fortlaufende Analyse der Arbeitsorte, Vertragsklauseln und Sozialversicherungsanbindungen ist unerlässlich, um rechtlich sicher agieren zu können. Auch E‑Commerce-Unternehmen mit internationalen Servicestandorten oder ausgelagerten Logistikpartnern sollten sich mit den arbeitsrechtlichen Bestimmungen ihrer jeweiligen Einsatzländer vertraut machen.
Fazit: Strategische Compliance im europäischen Arbeitsrecht
Die Entscheidung des Gerichtshofs verdeutlicht, dass die Bestimmung des anwendbaren Arbeitsrechts stets im Lichte der tatsächlichen Umstände des Beschäftigungsverhältnisses zu prüfen ist. Unternehmen sind gefordert, regelmäßig zu evaluieren, ob ihre personellen Strukturen, Tätigkeitsverteilungen und Vertragsbedingungen mit den rechtlichen Anforderungen im Einklang stehen. Dabei reicht es nicht, sich auf einmal festgelegte Rechtswahlklauseln zu berufen, denn deren Bindungswirkung endet dort, wo zwingende Schutzvorschriften eines anderen Staates eingreifen. Die Fähigkeit, solche Veränderungen rechtzeitig zu erkennen und rechtlich korrekt darauf zu reagieren, stellt einen wesentlichen Bestandteil moderner Unternehmensführung in einem grenzüberschreitenden Umfeld dar.
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